Compagnie Poesie

Zur Philosophie der Compagnie Poesie

Was ist das Besondere an der Compagnie Poesie und ihrer Veranstaltung? Die „Lange Nacht der Poesie“ hat zunächst einmal einen leicht irreführenden Titel. Nicht, dass es keine lange Nacht wäre, nein, es ist die Poesie im Titel der Veranstaltung, die ein gewisses Befremden auslöst, wenn man das Programm dagegen hält. Poesie, das meint im allgemeinen Sprachverständnis die Dichtung und somit eine Form der Literatur. Im Kontext der „Langen Nacht“ sind aber viele Formen der Kunst vertreten: Musik, Literatur, Artistik, Zauberei, Puppenspiel, Gesang, Pantomime, Kabarett und etliches andere. Aus der scheinbar losen Abfolge der Auftritte, die in Wahrheit wohl komponiert und abgestimmt sind, entsteht allerdings etwas völlig Neues.

Es entsteht ein einmaliges und zugleich flüchtiges Gesamtkunstwerk, das mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Jede „Lange Nacht der Poesie“ ist anders, ist ein Unikat, schafft für den Zuschauer und Zuhörer einen einmaligen Erlebnisraum. Die Veranstaltung wird nicht reproduziert (keine Aufzeichnung fürs Fernsehen also), sondern bleibt nur erhalten in der Erinnerung der Teilnehmer. Das macht ihren spezifischen Reiz aus.

Die „Lange Nacht der Poesie“ erinnert uns an die Urform des Poetischen; an den Märchenerzähler, der dasselbe Märchen jedes Mal anders erzählt; der jede Nacht zusammen mit seinem Publikum etwas Neues erschafft.

Die Auftritte der Künstler-Compagnie erinnern auch noch an eine andere Tradition: an das Varieté der 20er Jahre. Allerdings ist das Varieté-Konzept  nicht unverändert übernommen, sondern vielmehr deutlich verändert. Klassisches Varieté bedeutet nämlich die Betonung der Artistik, der Show, der Schaffung reiner Illusion. Die „Lange Nacht der Poesie“ ist anders: Sie spart das Zeitkritische, das Politische, das Kabarettistische nicht aus. Es entsteht hierdurch eine neue Qualität des Varietés. Der Zuschauer bekommt nicht nur vier Stunden eine gute Performance geboten, er bekommt immer auch Denkanstöße – und immer sitzt nach einer Veranstaltung bei den Zuschauern der eine oder andere Widerhaken im Fleisch seiner Bequemlichkeit. So stiftet die „Lange Nacht“ eine produktive Unruhe beim Teilnehmer und wirkt somit über den Tag – besser: die Nacht – hinaus.

Das scheint mir das Konzept bei der Auswahl der Akteure zu sein und den gemeinsamen Nenner dieser in Kunstrichtung, Form und Inhalt so unterschiedlichen Interpreten auszumachen. Sie wollen etwas bewirken und nicht nur unterhalten. Das erscheint selbstverständlich bei den Liedermachern, bei Hannes Wader, Erich Schmeckenbecher oder Werner Lämmerhirt. Aber wie  sieht es mit den anderen Künstlern und Kunstformen aus? Lässt sich dieses Konzept dort überhaupt verwirklichen?

Als Beispiel kann der Zauberer Matthias Wesslowski dienen: Hier wird nicht nur das Illusion schaffende Zauberkunststück vorgeführt, sondern als weitere  Ebene seines Vortrags zeitkritisches Kabarett geboten. Oder der Pantomime Peter Mim, der nicht nur großartige pantomimische Körperkunst bietet, sondern (sprachlos) Geschichten erzählt und Fragen aufwirft, die uns noch lange bewegen. Die Reihe lässt sich jetzt mühelos fortsetzen mit nahezu allen Akteuren der Comapagnie Poesie. Das Strukturprinzip der „Langen Nacht“ ist damit entschlüsselt: Es ist nicht nur die Mischung der Akteure und Kunstrichtungen, es ist auch ein verbindendes Element, das die Künstler der Compagnie auszeichnet – nämlich, der hohe Anspruch, den sie selber an das Weiterwirken  ihres Auftrittes offenbar stellen.


(Auszug aus dem Geleitwort zur Tagung der Compagnie Poesie in Bad Karlshafen im Januar 2006, von Prof. Dr. Helmut Volpers)